Noch vor vier Jahren war das appetitregulierende Hormon „Glucagon-like Peptide-1“ weitgehend unbekannt. Heute ist das als GLP-1 bekannte Hormon in aller Munde ‒ seit sich Medikamente, die seine Wirkung nachahmen, als Mittel zur Unterstützung der Gewichtsreduzierung bewährt haben.
Die wachsende Zahl dieser Medikamente, darunter bekannte Namen wie Wegovy, Zepbound und Mounjaro, führt bereits zu Umbrüchen in der Abnehmindustrie. Währenddessen tun sich die Versicherer schwer, die langfristigen Auswirkungen für das Gesundheitswesen insgesamt abzuschätzen. Es geht nicht nur darum, ob GLP-1-Medikamente von den Krankenversicherungen übernommen werden sollten, sondern auch um die Konsequenzen ihrer weiten Verbreitung. In welchem Masse werden sie häufige Begleiterkrankungen von Adipositas wie Herzkrankheiten und Diabetes reduzieren? Könnten sie die Lebenserwartung erhöhen? Und wenn ja; gewinnen die Menschen dadurch gesunde Lebensjahre, oder bedeutet ein längeres Leben auch mehr medizinische Eingriffe?
Die Krankenversicherung ist heute nur einer von vielen Sektoren, die im Zeichen von Umbruch und Unsicherheit stehen. Immobilien- und Sachversicherer etwa sehen sich mit stark steigenden Schadensleistungen nach Extremwetterereignissen konfrontiert. Manche reduzieren bereits ihre Deckung in besonders klimagefährdeten Regionen. Auch die künstliche Intelligenz (KI) stellt eine bedeutende Unbekannte dar und könnte neue und weitreichende Möglichkeiten für Cyberbetrug schaffen.
Unsere Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme befinden sich im Wandel und stellen Versicherer vor völlig neue Herausforderungen. In dieser Übergangsphase von quantifizierbaren zu schwer messbaren Risiken beleuchten wir die Reaktionen der Versicherer sowie die wahrscheinlichen Konsequenzen für Anlegerinnen und Anleger wie auch für die Gesamtwirtschaft.
Das Ende von Adipositas?
Im Mai 2025 meldete WeightWatchers Insolvenz an. Jahrzehntelang war das Unternehmen eine feste Grösse im äusserst lukrativen Abnehmmarkt gewesen. Den Konkurs begründete es mit der Konkurrenz durch Abnehm-Apps und die plötzliche Verfügbarkeit von GLP-1-Medikamenten. Das Blatt begann sich zu wenden, als Talkshow-Moderatorin Oprah Winfrey – damals Grossaktionärin von WeightWatchers – von ihrem Aufsichtsratsposten zurücktrat und ankündigte, ihre WeightWatchers-Aktien zu spenden. Zuvor hatte sie eingeräumt, ihre deutliche Gewichtsabnahme mithilfe von GLP-1-Medikamenten erzielt zu haben.
Rund 40% der US-Bevölkerung sind adipös1 – eine Zahl, die sich seit 1960 vervierfacht hat.2 Nun stellt sich die Frage, ob das Ende der Adipositas-Epidemie in Sicht sein könnte. Wegovy, auch bekannt als Ozempic, wurde erst im Juni 2021 von der US-Aufsichtsbehörde FDA als Medikament zur Gewichtsreduktion zugelassen. Dennoch haben Schätzungen zufolge bereits rund 6% der Amerikanerinnen und Amerikaner – rund 15 Millionen Menschen – aktuell eine Verschreibung für GLP-1-Medikamente. Jeder Achte könnte sie bereits ausprobiert haben.3 Der weltweite Markt für GLP-1-Medikamente dürfte bis 2032 auf über USD 471 Mrd. anwachsen.4
Die rasant steigende Popularität von GLP-1-Medikamenten hat einen umfangreichen Datensatz aus Studien zu ihrer Anwendung hervorgebracht. So ist mittlerweile bekannt, dass die neuen Medikamente nicht nur die Gewichtsabnahme unterstützen. Sie reduzieren auch das Risiko für herzinsuffizienzbedingte Krankenhausaufenthalte, Schlaganfälle sowie Adipositas-Begleiterkrankungen wie Krebs und Nierenversagen um 7% bis 21%. Zudem können sie die Gesamtmortalität um rund 12% senken.5
Diese weitreichenden Vorteile könnten Versicherer dazu zwingen, die Annahmen zu überarbeiten, auf denen ihre Risikomodelle basieren. Dem Rückversicherer Gallagher Re zufolge könnten allein GLP-1-Medikamente die US-Gesundheitsausgaben kurzfristig um 1% bis 2% erhöhen. Langfristig jedoch „könnte ihr Potenzial zur Reduzierung der Belastungen durch chronische Erkrankungen zu erheblichen Einsparungen führen“6.
Vieles bleibt jedoch noch ungewiss. So hebt Gallagher Re hervor, dass unter Fachpersonen für medizinische Risiken Uneinigkeit herrscht, ob GLP-1-Medikamente zu einem Rückgang oder einem Anstieg geplanter chirurgischer Eingriffe wie Gelenkersatzoperationen führen werden. Einerseits reduziert Gewichtsverlust die Belastung der Gelenke; andererseits kommen aufgrund des niedrigeren BMI mehr Menschen für solche Operationen infrage. Da GLP-1-Medikamente noch nicht lange auf dem Markt sind, müssen die Versicherer möglicherweise ihre Versicherungsrichtlinien ändern, sobald sich ein klares Bild abzeichnet.
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KI und Cybersicherheit
Parallel zum rasanten Aufstieg der GLP-1-Medikamente verzeichnet auch die generative KI eine explosive Entwicklung. Seit der Einführung von ChatGPT im November 2022 ist das Ökosystem generativer KI-Tools noch schneller gewachsen als das der GLP-1-Medikamente. Und auch sein Einfluss auf die Gesellschaft könnte noch drastischer sein. Für die Versicherer wiederum stellt KI einen unbekannten Störfaktor dar, der den Cyber-Versicherungsmarkt grundlegend verändern könnte.
Lloyds zufolge dürfte KI zu einem Anstieg geringfügiger Schäden durch Cyberangriffe führen, da KI-Modelle menschliche Schwachstellen durch Identitätsbetrug oder Phishing effektiver ausnutzen können. Sie können zudem Angriffe flexibel anpassen, um der Entdeckung zu entgehen, und erreichen aufgrund der geringeren Kosten bei der Zielauswahl einen grösseren Opferkreis.7 Der deutsche Versicherungsriese Allianz stellt fest, dass sich der Cyber-Versicherungsmarkt als Reaktion darauf in den kommenden Jahren voraussichtlich auf nahezu USD 30 Mrd. verdoppeln wird.8
Die langfristigen Folgen für Versicherer sind jedoch weiterhin ungewiss. KI stellt zwar eine Bedrohung dar; sie könnte jedoch ebenso von Unternehmen genutzt werden, um Cyberangriffe frühzeitig zu erkennen. Branchenprognosen zufolge könnten die Ausgaben für KI-gestützte Cybersicherheit bis 2027 auf USD 46,3 Mrd. ansteigen.9 Rishi Baviskar, Global Head of Cyber Risk Consulting bei Allianz Commercial, erklärt: „KI dürfte die Versicherungsindustrie von Grund auf verändern. [...] Die Versicherer müssen sich an neue KI-spezifische Bedrohungen, die Weiterentwicklung regulatorischer Vorgaben und die Verlagerung hin zu einer proaktiven Risikominderung anpassen.“
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Klimawandel erzwingt ein Überdenken der Risiken
Auch Immobilienversicherer stehen vor einer beispiellosen und eskalierenden Herausforderung. Vor 40 Jahren belief sich der weltweite finanzielle Gesamtschaden durch Extremwetterereignisse und Klimakatastrophen auf USD 9,19 Mrd.10 Bis zum vergangenen Jahr war dieser Wert auf USD 320 Mrd. angestiegen.11 In Grossbritannien haben die Sachversicherungsleistungen den höchsten Stand seit 20 Jahren erreicht.12
Extremwetter ist zu einem wesentlichen Risiko für Versicherer geworden, das sie zwingt, ihre Risikomodelle grundlegend zu überdenken. Für Unternehmen, politische Entscheidungsträger sowie Anlegerinnen und Anleger besteht die Gefahr letztlich darin, dass die Versicherungsgesellschaften die Verfügbarkeit ihrer Deckung einschränken. In Teilen der USA ist dies bereits Realität. In den Jahren 2022 und 2023 liess State Farm, der grösste Gebäudeversicherer der USA, Zehntausende von Policen auslaufen und stoppte das Neugeschäft in Kalifornien. Grund waren Extremwetterschäden von über USD 12 Mrd.13
Im Jahr 2025 erlebte Europa die schlimmste Waldbrandsaison seit Beginn der Aufzeichnungen.14 Branchenanalysten zufolge hat sich das Waldbrandrisiko in Südeuropa „von einer sporadischen, ‚sekundären‘ Gefahr zu einem strukturell wesentlichen Verursacher von Ertragsschwankungen entwickelt [...]. Sommer mit Rekordtemperaturen, die Verlängerung der Waldbrandsaison und die Ausdehnung der Überlappungsbereiche zwischen Siedlungsräumen und Wald (Wildland-Urban Interfaces, WUI) erhöhen die Schadenshäufigkeit und das Schadensausmass.“
Aufsichtsbehörden warnen, dass Banken und sogar Regierungen mit steigenden Versicherungskosten zu kämpfen haben könnten. Nach Angaben des Finanzstabilitätsrats, der von den G20-Ländern gegründeten Regulierungsbehörde, könnten Banken Kredite für besonders gefährdete Immobilien und Unternehmen zurückfahren. Gleichzeitig könnten die Kosten der staatlichen Kreditaufnahme steigen. In einem Worst-Case-Szenario könnte Panik an den Märkten ausbrechen, wenn die Marktteilnehmer erkennen, dass sie das Ausmass des Klimawandels unterbewertet haben.
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Aufbau von Resilienz – von einem reaktiven zu einem proaktiven Ansatz
Die Versicherungsbranche sieht sich zahlreichen Unsicherheiten ausgesetzt. Wir sind bei Lombard Odier der Ansicht, dass dafür ein fundamentaler Systemwandel in allen Volkswirtschaften und in der Gesellschaft verantwortlich ist.
Unseres Erachtens zwingen „Pain Points“ – wie die eskalierenden Auswirkungen des Klimawandels, zunehmend unerschwingliche Gesundheitssysteme und ein Tsunami an digitalen Innovationen – Geschäftsmodelle zur Anpassung. Für Versicherer bedeutet das eine grundlegende Verschiebung von einer reaktiven Politik hin zu einer proaktiven Risikominderung. Sie arbeiten mit den Kunden zusammen, um angesichts der aktuellen Ungewissheiten Resilienz aufzubauen.
So nutzt beispielsweise im Gesundheitswesen der britische Krankenversicherer Vitality einen bewährten kollaborativen Ansatz, um die Versicherten zu einer gesünderen Lebensweise zu motivieren. Kunden, die sich regelmässig sportlich betätigen, profitieren von einer reduzierten Selbstbeteiligung. Bei GLP-1-Medikamenten verfolgt das Unternehmen nun einen ähnlich proaktiven Ansatz und bietet sie vergünstigt in Kombination mit Ernährungsberatung an. Ziel ist es, die Therapietreue zu verbessern und die Versicherten dabei zu unterstützen, ihr gesundes Gewicht auch nach Absetzen der Medikamente zu halten. Wir sind überzeugt, dass ein proaktiver Ansatz der Versicherer Teil des Übergangs im Gesundheitswesen sein wird. Das bedeutet eine Abkehr von der Behandlung akuter Krankheitssymptome hin zu einem präventionsorientierten Versorgungsmodell, das besser zugänglich ist und die Lebenserwartung steigert.
Im Immobiliensektor könnten manche Versicherer ihre Deckung in besonders gefährdeten Regionen reduzieren. Andere dagegen werden einen proaktiven Ansatz verfolgen und die Deckung an vorherige Massnahmen zur Risikominderung knüpfen oder Anreizsysteme anbieten. Im US-Bundesstaat Alabama bietet beispielsweise das Programm FORTIFIED Roofs mit staatlicher Unterstützung Rabatte auf Versicherungsprämien für Hauseigentümer, die ihre Häuser an den geforderten Standard anpassen. Nach dem Hurrikan Sally, der Alabama 2020 heimsuchte, war die Versicherungsselbstbeteiligung bei Häusern, die den FORTIFIED-Anforderungen entsprachen, laut Studien um 60% niedriger als bei benachbarten Nicht-FORTIFIED-Häusern. In Grossbritannien bietet ein ähnliches Programm der Regierung und der Versicherungsbranche Zuschüsse in Höhe von GBP 10’000. Von Überschwemmungen betroffene Eigentümer können damit Resilienzmassnahmen ergreifen, die über die reinen Reparaturkosten hinausgehen.
Ebenso wie Versicherer von einem reaktiven zu einem proaktiven Ansatz übergehen, sollten unseres Erachtens auch Anlegerinnen und Anleger bei der Portfolioallokation proaktiv vorgehen. Anstatt sich auf die unzähligen kurzfristigen Ungewissheiten von heute zu konzentrieren und als Erste auf jede Schlagzeile zu reagieren, sollten Anleger langfristig denken. Sie sollten so investieren, dass sie den Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft vorantreiben und gleichzeitig davon profitieren.
Wir sind der Ansicht, dass die zahlreichen „Pain Points“ von heute die Abkehr von unserem aktuellen unwirtschaftlichen und schädlichen Wirtschaftsmodell vorantreiben. Sie beschleunigen den Übergang zu einer naturfreundlichen, sozial konstruktiven und digital unterstützten Netto-Null-Wirtschaft. Versicherer, Unternehmen sowie Anlegerinnen und Anleger, die an einem reaktiven Ansatz festhalten, werden bald das Nachsehen haben. Diejenigen hingegen, die proaktiv handeln, Resilienz gegen die Ungewissheiten von heute aufbauen und den Übergang fördern, sind die Gewinner von morgen.
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