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    Die Globalisierung entwickelt sich weiter

    Die Globalisierung entwickelt sich weiter
    Stéphane Monier - Chief Investment Officer<br/> Lombard Odier Private Bank

    Stéphane Monier

    Chief Investment Officer
    Lombard Odier Private Bank

    Kernpunkte

    • Eine politisch stärker fragmentierte Welt und Unterbrechungen in den Lieferketten werfen die Frage auf, ob wir eine „Deglobalisierung“ durchlaufen
    • Infolge der Pandemie, des verlangsamten Wachstums, der hohen Inflation und der Störungen durch den Krieg in der Ukraine kommt es zu einer Verlagerung der Industrieproduktion und des Vertriebs
    • Unseres Erachtens entsteht derzeit ein neues Produktionsmodell, das die neuen geopolitischen Gegebenheiten und Kosten berücksichtigt
    • Die Anleger müssen beim aktiven Management ihrer Aktienportfolios sektorbezogene und geografische Überlegungen gleichermassen einbeziehen.

    Auf dem jährlichen World Economic Forum haben vergangene Woche in Davos führende Vertreter aus Wirtschaft und Politik ausgiebig über die „Deglobalisierung“ diskutiert. Wird die Welt immer insularer und multipolarer, während die Volkswirtschaften mit Störungen in den Lieferketten nach der Pandemie, inflationstreibenden Engpässen, Chinas Null-Covid-Strategie und dem Krieg in der Ukraine zurechtzukommen versuchen? Wir glauben, dass der Prozess der Globalisierung sich weiterentwickeln und nicht zum Stillstand kommen wird.

    Wenn wir uns die Globalisierung als einen Prozess vorstellen, der kontinuierliches Wachstum und einen höheren Lebensstandard fördert, könnte man zu Recht behaupten, dass wir eine Phase der Deglobalisierung erleben. Angesichts des politischen Nationalismus, des Rückzugs Hunderter westlicher Unternehmen aus dem russischen Markt, des Mangels an hochkarätigen neuen Handelsabkommen und der anhaltenden Strafzölle der USA und Chinas könnte man in der Tat meinen, die Globalisierung sei rückläufig.

    Wir waren schon einmal an diesem Punkt. Der Begriff „Deglobalisierung“ tauchte zum ersten Mal nach der grossen Finanzkrise auf und wurde als Folge des verlangsamten globalen Wachstums betrachtet. Die Globalisierung begann jedoch nicht mit der Erfindung des Schiffscontainers in den 1950er-Jahren, dem Ende des Kalten Kriegs oder dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 2001. Es handelt sich um einen jahrhundertelangen Entwicklungsprozess, der wohl weder durch die Pandemie noch durch die jüngsten Covid-Massnahmen Chinas oder den Krieg in der Ukraine beendet wird.

    Das Netzwerk aus Rohstoffen, Herstellung, Vertrieb und Lieferung, das wir bis zur Pandemie als selbstverständlich hinnahmen, ist durch den Mangel an Arbeitskräften und Komponenten auf den Prüfstand geraten. Zunächst fehlende Schutzmasken und die Konkurrenz bei der Beschaffung von Impfstoffen auf nationaler Ebene unterstrichen unsere Abhängigkeit von Importen und dem weltweiten Einkauf von Waren. Ebenso unterstrichen sie die Notwendigkeit, die Waren mit minimalen Verzögerungen über die Grenzen zu bringen. Das produzierende Gewerbe, das in den letzten Jahrzehnten „Just-in-Time"-Systeme entwickelt hat, geht zu einer „Just-in-Case"-Produktion über, um Unterbrechungen in den Lieferketten zu vermeiden.

    Die Globalisierung endet nicht, sondern sie entwickelt sich weiter

    Wie der Kolumnist der New York Times, Thomas L. Friedman, letzte Woche in Davos argumentierte, ist die Globalisierung kein einseitiger Prozess. Die vergangenen 14 Jahre haben gezeigt, dass die Globalisierung nicht nur wirtschaftlich und geopolitisch begründet ist. Sie unterliegt auch dem Einfluss der Verbraucher und ihrer Fähigkeit, weltweit zu kommunizieren, Vergleiche über Grenzen und Regionen hinweg anzustellen und dadurch die Nachfrage anzutreiben. So gesehen erstreckt sich die Globalisierung auf die Art und Weise, in der Handel und Technologien die Welt stärker vernetzen und gegenseitige Abhängigkeiten schaffen. Demnach können wir davon ausgehen, dass die Globalisierung nicht endet, sondern sich weiterentwickelt.

    Multilaterale Neugestaltung

    Natürlich wird die Welt immer multipolarer. Gleichgesinnte Handelspartner schliessen sich in einem Prozess zusammen, der manchmal als „Friendshoring“ bezeichnet wird. Der offensichtlichste neue Block besteht aus den USA und der Europäischen Union und ihren Verbündeten, die rasch eine Reihe von Sanktionen gegen Russland verhängt haben. Ebenso offensichtlich ist eine bündnisfreie Gruppe, zu der Brasilien, Indien, Südafrika und China gehören. Diese Länder sind nach wie vor nicht willens oder nicht in der Lage, ihre Beziehungen zu Russland zu kappen. Längerfristig bleibt die wichtigste bilaterale Beziehung der Wettbewerb zwischen den USA und China.

    Die Ära der ehrgeizigen multilateralen Abkommen zur Erleichterung des Handels auf globaler und regionaler Ebene scheint der Vergangenheit anzugehören. Das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) stammt aus dem Jahr 1947. ASEAN (1961), Mercosur (1991 und 1994), NAFTA (1992) und die WTO (1995) folgten. In einigen Fällen wird dieses Netz an Handelsabkommen überarbeitet oder abgebaut: Grossbritannien entschied sich 2016 für den Brexit. Die Regierung unter Trump beendete 2017 die Mitgliedschaft der USA in der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) und verhandelte 2018 ein Abkommen mit Mexiko und Kanada neu. Seit Dezember 2019 blockieren die USA zudem das Streitbeilegungssystem der WTO. In der vergangenen Woche unterzeichnete die Regierung Biden jedoch ein 13 Nationen umspannendes Indo-Pazifik-Abkommen (Indo-Pacific Economic Framework – IPEF). Es umfasst Arbeitsnormen und Bestimmungen zum elektronischen Handel, schliesst aber China – wie schon im TPP zuvor – aus.

    Vor der aktuellen Inflationskrise führten der Arbeitskräftemangel und die Umwälzungen in der Verbrauchernachfrage wegen Covid zu einer Verknappung der Schiffscontainer. Die Preise stiegen von rund USD 1’500 im Februar 2020 auf einen Höchststand von mehr als USD 10’300 im September 2021. Mittlerweile sind die Containerkosten immer noch weit höher als vor der Pandemie: Im April betrugen sie USD 7’768. 

    Im Jahr 2021 erreichte der Warenhandel einen Rekordwert

    Das hat aber nicht verhindert, dass die Handelsvolumen wertmässig gestiegen sind. Seit der Erfindung des 20 Fuss (6,1 Meter) langen genormten Stahlschiffscontainers im Jahr 1956 hat sich das Welthandelsvolumen nach Angaben der Welthandelsorganisation um das 40-Fache erhöht. Der Wert der beförderten Waren ist heute fast 300-mal so hoch wie damals. Im Jahr 2021 erreichte der Warenhandel einen Rekordwert von USD 28,5 Bio. – ein Anstieg von 25% gegenüber 2020 und von 13% gegenüber 2019. Der Handel mit Dienstleistungen betrug 2021 USD 1,6 Bio. und war damit ähnlich hoch wie 2019. Dennoch hat sich das Wachstum des Welthandels seit der grossen Finanzkrise verlangsamt. Während das Wachstum nach 1945 durchschnittlich 6% pro Jahr betrug, schwächte es sich seit 2008 auf etwa 3% pro Jahr ab. Wir gehen davon aus, dass es sich auf etwa 1,5% verlangsamen wird (siehe Grafik 1).

     

    Von „Just-in-Time“ zu „Just-in-Case“

    Jede Kette ist bekanntermassen nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Während die Welt multipolarer wird, werden die industriellen Lieferketten angepasst mit den Ziel, sie gegen Störungen abzusichern. Vor der Pandemie herrschte die Sorge um die Kosten vor, nun steht eine widerstandsfähige Beschaffung und Produktion im Vordergrund.

    Um für mehr Widerstandsfähigkeit zu sorgen, könnten die Unternehmen zu einer „dualen Beschaffung“ von Komponenten und Fertigung übergehen, indem sie dieselben Elemente an zwei oder mehr Standorten herstellen und damit eine überlappende Redundanz schaffen. Dieser Trend lässt sich als Abkehr von der „Just-in-Time“- hin zur „Just-in-Case“-Fertigung zusammenfassen. Der Preis für die grössere Flexibilität bei der Beschaffung werden die Kosten sein, die mit kleineren Produktionsmengen und möglicherweise höheren Löhnen verbunden sind.

    Statt über nationales „Onshoring“ wird vermehrt über „Nearshoring“ oder die Verlagerung der Produktion in befreundete Länder diskutiert. Wir sollten diesen Trend jedoch nicht überbewerten. Wenn Verlagerungen stattfinden, dann geschieht dies im Hintergrund. Zugleich bauen viele grosse Unternehmen wie der europäische Flugzeughersteller Airbus ihre Produktionskapazitäten in China weiter aus.

    Ein Sektor, der durchaus Produktionsstandorte verlagern könnte, ist angesichts seiner strategischen Bedeutung für die Elektronikindustrie der Halbleitersektor. Auf China entfällt etwa ein Viertel der weltweiten Halbleiterexporte, Japan und Taiwan produzieren zusammen ein weiteres Fünftel. Eine Verlagerung des Produktionsstandorts kann allerdings nicht von heute auf morgen erfolgen, da es von der Inbetriebnahme bis zur Produktauslieferung drei Jahre dauern kann.

    Der Mangel an Halbleiterchips hat sich auf die Automobilindustrie ausgewirkt. Er hat die Auslieferungen verlangsamt, die Preise für Gebrauchtfahrzeuge in die Höhe getrieben und 2021 schätzungsweise 10% des weltweiten Absatzes gekostet. In Europa wird sich dieser Effekt in der Automobilproduktion wahrscheinlich noch verstärken. Aufgrund des Kriegs in der Ukraine, wo ein Grossteil der Kabelbäume der Automobilindustrie zusammengebaut wird, ist das für 2022 erwartete Volumen um weitere 5% zurückgegangen. Längerfristig werden die Automobilhersteller die Montage in Niedrigkostenländern wie der Ukraine, China und Mexiko sowie in nordafrikanischen Ländern fortsetzen müssen, selbst wenn die derzeitigen Störungen anhalten. Am anderen Ende des Preisspektrums sind einige Sektoren, z.B. Mode, hochgradig standardisiert. Sie haben nur sehr wenig Spielraum für Preiserhöhungen und somit auch keinen Spielraum für eine Rückverlagerung von Produktionsstandorten.

    … da die Waren auch bei höheren Handelsschranken ihren Weg zu den Verbrauchern finden

    Die Globalisierung entwickelt sich weiter, da sich der Handel an veränderte geopolitische Bedingungen anpasst, um die Nachfrage der Verbraucher zu befriedigen. Dabei erwarten wir keine grösseren strukturellen Auswirkungen auf die Inflation oder das Wirtschaftswachstum, da die Waren auch bei höheren Handelsschranken ihren Weg zu den Verbrauchern finden.

    So ist der Anteil Chinas an den weltweiten Exporten gestiegen, während das Volumen der Direktexporte in die USA seit 2018 zurückgegangen ist. In jenem Jahr begannen die beiden Länder, die Zölle auf die Importe des jeweils anderen zu erhöhen (siehe Grafik 2). Höhere Handelszölle zwischen den USA und China führten eher zu einer Verlagerung der Produktion an nahe oder benachbarte Standorte wie Vietnam als zu einer radikalen Umstellung auf lokale Produktion.

    Zölle sind zwar nie vorteilhaft für eine Wirtschaft, aber ihre Auswirkungen scheinen relativ begrenzt zu sein. Die von der vorherigen US-Regierung eingeführten Zölle werden das Wachstum des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts langfristig um schätzungsweise 0,2% schmälern. Mit Blick auf den kurzfristigen Kampf gegen steigende Verbraucherpreise vielleicht noch wichtiger ist, dass unseren Schätzungen zufolge eine vollständige Aufhebung der Zölle die Gesamtinflation in den USA um etwa 1,3% senken würde. 

    Eine Verlagerung zu regionalen Handelsblöcken könnte schliesslich auch die Rolle des US-Dollar als Weltreservewährung infrage stellen. Die Notwendigkeit, weltweit Handel zu treiben, und die Kaufkraft der US-Verbraucher haben jedoch bislang den Status des US-Dollar zementiert und werden dies auch weiterhin tun. Wie wir in einem vor Kurzem erschienenen Artikel erörtert haben, fehlen Alternativen. Demnach ist es schwer vorstellbar ist, dass der US-Dollar seine Stellung als weltweit dominierende Währung verliert.

     

    Sektorbezogene Anlagen überdenken

    In den meisten Branchen sind die Unternehmen auf global integrierten Märkten tätig, die von der Beschaffung über die Produktion bis zum Vertrieb reichen. Folglich können die Unternehmen eines bestimmten Sektors mehr Gemeinsamkeiten untereinander aufweisen als die Unternehmen eines bestimmten Landes oder eines regionalen Index. Zugleich lässt sich belegen, dass die Streuung der Renditen für Aktien innerhalb von Sektoren und Regionen mindestens gleich bedeutend ist (siehe Grafik 3 und 4). Anleger auf der Suche nach Investmentmöglichkeiten sollten deshalb taktische regionale Überlegungen durch thematische sowie sektorbezogene Überlegungen ergänzen.

    Wichtige Hinweise.

    Die vorliegende Marketingmitteilung wurde von der Bank Lombard Odier & Co AG (nachstehend “Lombard Odier”) herausgegeben. Sie ist weder für die Abgabe, Veröffentlichung oder Verwendung in Rechtsordnungen bestimmt, in denen eine solche Abgabe, Veröffentlichung oder Verwendung rechtswidrig ist, noch richtet sie sich an Personen oder Rechtsstrukturen, an die eine entsprechende

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